Texts about Johan Lorbeer’s Performances

Distentio Animi (English)
Punkt und Zeit (Deutsch)

rothko-fax-01-200

Distentio Animi

The favourite genre of Johan Lorbeer’s work is super-slow performance. It is an artistic act, the working language of different types of visual art such as sculpture, installation and dramatic body gesture. At the centre of this creative effort are spatial-temporal gaps, interruptions, transitions and inversions. Through the fixation of his own body in a highly unusual place and condition in space and time, the artist is striving to express its fluidity in a physical way.

The author creates a still-life performance, appealing, not to the French term natur mort, but rather to the English language transcription of ‘still’, but nevertheless ‘live’, nature. Unlike a painter which animates the static world of things, he focuses on the slowing down of real human activity, as though it has singled out a specific unit of time. This constitutes an act of resistance to the speed of the present, making the natural living world level. The freezing of the moment has become the current way to draw closer to the beautiful.

Lorbeer manages to achieve this decompression of time by creating a unique stop-frame, not on film or a screen, but in a 4-dimensional reality. This fixing of the moment was first witnessed in relief in the work of Rotko Fax, who expressed such a slowing-down of life in the following way: a living human body literally stopped in motion, and thus displayed to the observer at its most dynamic phase. The artist elegantly and without visible effort conquers the impossibility of holding one’s body at an angle of 45 degrees to the ground, holding two frottee-towls in his streched out arms.

The artist’s strategy of decompression and displacement creates a basic view of the meaning of the significant paradox expressed by one of the first phenomenologists of time - St.Augustine, Bishop of Hippo. He maintained that time becomes accessible to the human experience in the paradoxical stretching of the soul - distentio animi - through the nervous expectation of the future, attention to the present and the memory of the past. It is according to this same formula that Johan Lorbeer strives to work, drawing our gaze towards a single live action of standing in time. It combines the conditions of maximum concentration and discipline with the visible relaxation of poses. Still-life performance is a sculptural expression of the act of creation.

Just as the human body is expressed through the plastics of Giacometti as fading into the distance, so Lorbeer’s live sculptures attempt to widen perception, but in terms of duration rather than distance. The physically extended reality of the moment contains a super-slow view. The fluidity of the moment becomes visible and perceptible. It allows one to perceive inconspicuous phenomena which are created by the reality of the senses.

Of course, it is possible to find clear points of relation between the lively work of this artist, as with the intensions of other artists, like Gilbert&George, and as well with the public-entertainment genre of live sculpture which can frequently be viewed in town squares across Europe. However, Lorbeer’s work differs from this in a fundamental way, in that the artist remains a real human being, he himself spending two hours in tempo of the sculpture. He is not the sculpture itself, but rather its prototype. Thus half of the name of the performance Tarzan/Standing Leg refers classical Greek posing ideals. The artist expands the size of an academic art classroom to include the whole public area. Thus Johan Lorbeer teaches the ordinary passer-by an object-lesson in the miracle of plastic anatomy.

Such a form of contemporary art is easy to understand. The public popularity of this genre is connected with the fact that a slight affect of perception is always on the foreground. The initial shock and surprise at coming across something so blatantly incredible mobilises the most important function of art - the presentation of parallel dimensions of reality. It is like a parallel world - we see a total rejection of normal daily life before our very eyes. It is as if the ordinary worker in a suit is just like any Joe Bloggs on the street, until he has confused echelons of movement and has forgot the rules of gravity. What is going through his mind? In that moment he probably imagines on finding himself in the ‘concrete jungle’ of the city, in search for a quiet resting place – above ground.

The figure suspended in air is a direct spatial metaphor for people taking place below. Moreover, it is a metaphor from the natural world. The awakening of the savage man (“natural man”) in the uniform of a civilized human being is, for the artist, a sigificant problem in the modern-day mentality - the fact that, nowadays, we do not have the opportunity to understand something on a purely simple level and in an immediate way. By opposing the habitual laws of attraction, Lorbeer opens up such an opportunity. He suggests that one should not look at the ground only - or, at least, to occasionally ignore it, and free oneself from the clichéd knowledge of reality.

Sergey Kovalevsky

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Punkt und Zeit (Spiegelungen)

Jede Geometrie des Sehens ist eine Geometrie der Projektion, der Perspektive. Sie gründet in den Ordnungen des Raumes (dem Nebeneinander) und der Zeit (dem Nacheinander), die das Auge abwandern, in denen es verweilen und tätig werden kann. Diese Ordnungen verdankt es einer unseren alltäglichen Orientierungen vorauseilenden Phantasie, die in den Raum hineinbildet, was das Auge wieder herausspiegelt: Richtungen, Abstände, wechselnde Konstellationen, Gesetze. Hier haben die Dinge ein oben und unten, vorne und hinten, Umriss und räumliche Gestalt. Sie lassen sich im Raum lokalisieren; die Örtlichkeit ist fix und auch für das weiterschweifende Auge verlässlich. Urprojektion ist der Punkt, von dem aus das oben und unten, rechts und links, vorne und hinten verständlich werden. Woher nehmen wir den Punkt? Gäbe es diesen Punkt nicht, der unserem Auge als Anhalt dient, würden wir im Sehen versinken.

Die Neuzeit reduziert das Perspektivische auf den mathematischen Punkt und visualisiert das Sehen selbst mittels Pfeilen oder Linien: die Pfeile, die das Sehen ausschickt, laufen in der Tiefe auf ein gemeinsames Ende zu, in dem sie sich treffen und dann in einen dunklen, nicht mehr abschreitbaren Raum verlieren. Dieser alles an sich ziehende Fluchtpunkt fällt jetzt zusammen mit dem Blickpunkt; durch ihn verläuft als waagerechte Grenze der Horizont. An diesen anstoßend erhält alles seine Organisation. Der Körper verliert sich nicht, sondern hört auf und beginnt in diesem Aufhören zugleich, in seine Bestimmtheit zu treten. Das Sehen schickt sich so gewissermaßen in seine Vergangenheit zurück, in den immer schon existierenden Punkt als Grenze und Ausgang all dessen, was ist. Es manifestiert sich im Rückgriff auf ein bereits Gesehenes, auf eine sich durch die Zeit hindurch haltende Gegenwart.

Jedes Raumkontinuum kann als das ruhende Ergebnis unruhiger Kräfte betrachtet werden, die sich selbst in die endlichen Fluchten der Konstruktion zurückziehen, dort wie untergründig kauern. Das auf dem Punkt als dem fundamentum inconcussum veritatis (Descartes) gegründete Kontinuum drängt zum einen die Zeit als ein solches Diskontinuum ins Abseits, zum zweiten die Bewegung, in der Räumliches und Zeitliches eine nur schwer entwirrbare Einheit bilden. Vom Raum her zeigt sich Bewegung primär als bestimmte Bewegung, als ein Hin und Her des Körpers, dessen Genese selber außer Frage steht. Die Körper können sich im Raum verschieben, aber sie tangieren die Gesetze des Raumes nicht. Alles ruht auf der Vorwegnahme der Zeit durch die um einen irren Umschlag gebauten Bedingungen von Punkt, Linie, Fläche. Sie sind so etwas wie der Panzer oder die Verschalung der Zeit, ihr veräußerter Körper. Hieraus resultiert die analytische Betrachtungsweise. (Übelkeit, wenn das oben und unten, das recht und links auszubrechen drohen.)

Die Gegenwart des Raumes ermöglicht die Repetition und damit Identität. Auch die Zeit erscheint zunächst unter den Bedingungen des Raumes: das Unterscheiden, der Wechsel, das Nacheinander gründen auf dem Beharren mit seinen abgründigen Entstehungsenden. Erst wenn wir zwei Jetzte festhalten können, als in den Raum eingeschriebenes Hier und Dort, wird die Zeit bemerkbar. Insofern ist der Raum in einer Hinsicht so etwas wie die Geburtsstätte der Zeit (als kontinuierlicher Verlauf). Alle Genesis bedient sich so einer sicheren Basis; sie stößt – anders als es in der Kunst geschieht – vom Perfektum in die Handlung vor.

Wenn wir den Raum (und die in ihm beherbergte Zeit) als ein dimensional vorgegliedertes Stellensystem nehmen, als Kontinuum, das den dunklen, abgründigen Schacht der Zeit in überschaubare Verläufe übersetzt hat, so gibt es darin zwar eine Anzahl von Bestimmungen, die etwas über die Verhältnisse der Dinge zueinander aussagen und ihre Zuordnungen wechselseitig charakterisieren, aber es gibt kein Hier. Denn das Hier im emphatischen Sinne als ein Hier und Jetzt ist ein sich allein auf sich beziehender Ort, sozusagen eine sich aus einem Unvorhergesehenen heraus setzende Raumstelle. Das Hier ist der Einbruch der Zeit in den Raum.

Von der verräumlichten Zeit ist also die Zeit als das radikal Diskontinuierliche zu unterscheiden, als Wegbrechen des Raumpunktes in das Jetzt. Hier greift die offene Zukunft auf das Vergangene über, das heißt der Punkt, der unserem Sehen den ersten Anhalt gibt, und der damit so etwas wie die immerwährende Vergangenheit des Sehens bildet, ist hier un-vorher-gesehen und muss erst eigens ‚geleistet’ werden. Er ist jetzt das Ergebnis einer schöpferischen Tätigkeit.

Mit der Zeit, oder genauer: mit dem jähen, unverhofften Berührtwerden des ruhenden Raumkontinuums durch die Diskontinuität der Zeit (als würde man für den Bruchteil herauskatapultiert aus der eingewohnten Statik – und wird man es nicht immer in den Momenten des Anfangens?) kehrt sich die horizontale Gegenwart des Raumes in die vertikale Gegenwart des Jetzt. Bei den Erfahrungen des Hier, des Jetzt (ebenso wie beim Ich und komplementär dem Du) handelt es sich immer um ein Entrücktwerden aus den in ein homogenes Beharren zurückgebundenen Bedingungen des Raumes in die Imponderabilität der erlebten, der erlittenen Zeit. Der Augen-Blick wird jetzt zum alles zusammenziehenden Knotenpunkt der räumlichen Extension.

Kehren wir also das Verhältnis um und versuchen, den Ausgangspunkt nicht mehr vom Raum, sondern von der Zeit her zu nehmen: der Punkt, der das rechts und links, oben und unten, vorne und hinten eröffnete, fällt in den Zeitfluss zurück und offenbart mit einem Schlag seine tatsächliche Abgründigkeit. Das Auge verliert seine gewohnten Fugen zum Eingreifen, es wird auf sich selbst zurückgeworfen, auf seine innerste Passivität. Die Zeit markiert jetzt die Umkehrung des Fluchtpunktes zur Wunde und zum Ausgangschaos jeder Konstruktion.

Weil in dieser Umkehrung jedes Fundament verschwindet (wie es der Tod als der letzte, gleichmütige Sieg der Zeit verdeutlicht), könnte man vielleicht sagen: die reine Zeit ist reines Erleiden. Zwar ist ebenso wie das Hier auch das Jetzt ein sich auf sich selbst beziehender Zeitpunkt, aber diese Selbstbezugnahme ereignet sich im Angesicht des Untergangs, während der Raumpunkt schon immer durch seine Fortsetzung in der Linie getragen war, die seine Existenz rückwirkend untermauert. Das Jetzt ist dagegen die Stelle, wo ein bestimmtes, der Maßlosigkeit des Todes ausgesetztes Wesen in das Kontinuum des Raumes einbricht, sich darin eine Gegenwart anweist, und das heißt: seine objektive Momentaneität als das im und gegen den Sog der Zeit gehaltene Jetzt deutlich werden lässt. Die Zeit erschließt sich so in ihrem Erlittenwerden, aber sie wird erst merkbar, insofern sie gebrochen wird in einen offenen, in sich angreifbaren Moment der Dauer. Dieses gehaltene Jetzt ist kein Stillstand, sondern erweist sich als die höchste, ja basalste Form der Bewegung überhaupt. Was unter der Perspektive des Raumes als das Selbstverständlichste erschien, das Beharren, eröffnet sich von der Zeit her als das Unselbstverständlichste und somit als höchste Tätigkeit.

Das Jetzt im Hier schlägt sich so als Einbruch nieder, aber zugleich als ein Tun, insofern es sich in einem schöpferischen Akt – mit einem alten metaphysischen Ausdruck: einer creatio continua – selbst und stets von Neuem herzustellen hat. Dabei kann es auf die räumlichen Bedingungen nur im Sinne der Negation zurückgreifen bzw. der Verflüssigung zum Baustoff der jetzt dem Zeitmoment entspringenden Verbindlichkeit. Dessen Signum ist nicht der Punkt, sondern eine Art Rhythmus – das in sich schwingende, zwischen Sein und Nichts erzitternde Produkt einer auf ihr eigenes Ende vorlaufenden Über- und Umsetzung. Aus den empirischen Gesetzen des Raumes (dem Gewesensein) erscheint dieser oszillierende Akt als Irritation, als ein Augenblick der Unruhe, der sich nicht verorten lässt, und der für das flüchtige, das apathische Auge sofort wieder versinkt. Die Affektion durch die Zeit stellt ja keine Affektion durch etwas dar, wovon man sich distanzieren könnte, insofern unser Sein nichts anderes ist als, wenn auch zumeist ‚verschalte’, im Räumlichen aufgefangene Zeit. In den „Still-Life-Performances“ Lorbeers zeigt sich diese Zeitberührung in der Notwendigkeit der unmittelbaren Bezeugung. Sie unterbrechen die Mechanismen nicht nur, indem sie sie unterlaufen, sondern indem sie sie von einem anderen Anfang her eigens zu tragen, merkbar zu machen beginnen. Träger ist nicht mehr der Punkt, sondern seine Genese, seine schwirrende Sichtbarmachung als Hier und Jetzt. So scheint etwa die Geste der Darbietung in „Rothko-Fax“ in ihren Anfang und ihr Ende zugleich zu fallen, ein Moment „permanenter Plötzlichkeit“ (Christian Janecke), der sich nur in sich selbst auffängt, und in diesem Halt blitzartig all die Bezüge versammelt, die wir im tagtäglichen Agieren überspringen, ja über sie hinwegleben. In „Zu Ehren meiner Mutter“ trägt diese Versammlung sogar kosmische Züge, wird jedoch gebrochen durch die Gebundenheit ihres Zentrums in die irdischen Notwendigkeiten der Wiederherstellung durch Schlaf, Nahrung und Trost. Die gleichmütige Präsenz der Gestirne kreist somit um einen Demiurgen, dessen Intensität der Bewahrung sich gerade aus seiner Erschöpfbarkeit nährt.

Mit jedem neuen Jetzt beginnt potenziell eine Neudimensionierung des Raumes. Aber nur mit dem übernommenen, dem künstlerisch bezeugten Jetzt, wird diese Potenz für eine bestimmte Dauer wirklich. Sie wird zum Fleisch der Zeit, zu ihrer Dehnung. Auch hier haben wir, wie in der Perspektivik des Raumes, Richtungsvektoren, aber jetzt aus Versehrbarkeit und Empfindung, jederzeit bereit, sich zu krümmen, auszuscheren und umzuspringen (die Querstreben der Choreographie „Henkersteg am Abend“, die schwebende Horizontalität in „Proletarisches Wandbild“). Die künstlerische Dehnung der Zeit wird zum Fluchtpunkt der Dinge und hebt so die räumliche Totalität der Dimensionen in sich auf: als architektonische Massegliederung, als die körperliche Figuration der Skulptur, als das in die ebene Fläche gebreitete Bild, als die lineare Skizze bis hin zur Verinnerlichung in den Punkt als Bewegung und Erzittern des materiellen Körpers in seinem Verhältnis zu sich selbst. Die vollständige Konzentration fiele in eins mit der Aufhebung des Nebeneinander überhaupt, wie es in der Musik der Fall ist, in der wir nur durch aktives Festhalten und Hinüberretten der gewesenen Gegenwart in die kommende einen erfüllten, wenn auch sogleich wieder aus sich hinausstrebenden Klang der Zeit erhalten.

Es ist jedoch der, den Schnittpunkt der Lorbeerschen Performances darstellende, menschliche Leib, der diese flüchtige Idealität des Klangs zugleich wieder zerbricht. Er bildet eine Form der bereits inkarnierte Zeit, die ihre vertikale Präsenz in die bestimmte Bewegung und damit in die Horizontalität des Raumes zurückschreibt. Dennoch geht dieser Leib nie in seiner Gegenständlichkeit auf, sondern spiegelt den Blick in den Betrachter zurück, eine Tatsache, die die Arbeiten Lorbeers dadurch unterstreichen, dass sie nicht nur gesehen werden, sondern zugleich selbst Sehende sind. Die Geometrie des Sehens kehrt sich also auch unter diesem Aspekt in die spekulative Präsenz des Hier und Jetzt. Ob der Zuschauer diesem Aufeinanderstoßen standhält oder nicht, berührt sie selbst nur am Rande.

Cathrin Nielsen

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